„Wenn es ein jüdisches Sicherheitsgefühl gab, dann ist es nun verschwunden“

Avigayil Edan ist drei Jahre alt. Sie lebte mit ihrer Familie in Kfar Aza. Am 7. Oktober wurden ihre Eltern, Roy und Smadar, vor ihren Augen von den Schergen der Hamas ermordet. Ihre Geschwister überlebten, weil sie sich für 14 Stunden in einem Kasten versteckten. Avigayil selbst wurde nicht, wie dutzenden anderen Babys in ihrem Dorf, der Kopf abgeschlagen. Sie wurde verschleppt: Nach Gaza. Dort wird die Dreijährige seit über einem Monat gefangen gehalten.

Avigayil ist eine von über 240 Menschen, die von der Hamas am 7. Oktober 2023 entführt worden sind. An diesem Tag fand das größte Pogrom an Juden und Jüdinnen seit der Shoah statt. 1.400 Menschen wurden an diesem Tag auf brutalste Art und Weise vergewaltigt, missbraucht und abgeschlachtet. Mehr als 3.000 zum Teil schwer verletzt. Millionen wurden (re)traumatisiert. Ihr Verbrechen? Sie lebten im einzigen jüdischen Staat. Sie lebten in Israel.

Ideologie der Vernichtung

An diesem Tag zeigte die Hamas den Kern ihrer Ideologie: Die Vernichtung aller Juden und Jüdinnen, in Israel und weltweit. Der Hamas geht es nicht um die Besatzung, um Rassismus oder die derzeitige rechtsextreme israelische Regierung. Am 7. Oktober hat die Hamas abermals gezeigt, dass sie ihre eigene Charta ernst nimmt. Es geht ihr um ein “judenreines” Palästina. Unabhängig davon, ob der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu oder Jitzhak Rabin heißt, unabhängig davon, ob gerade neue Outposts gebaut oder Siedlungen geräumt werden.

Ihre islamistische Ideologie ist eine Ideologie der Ungleichheit, welcher der Antisemitismus inhärent ist. Eine Ideologie, die sich, wie der Faschismus, durch Menschenverachtung, Antisemitismus, Antifeminismus, den Hass gegen Andersdenkende und Abweichler:innen, gegen die Progressivität und gegen die Moderne manifestiert. Eine mörderische Ideologie. Sie ist Teil eines internationalen Netzwerks, das nichts weniger als die Weltherrschaft zum Endziel hat, um dort ihre düstere Vision der Unfreiheit umzusetzen. Wie die mit ihr verwandte Ideologie des Faschismus versucht sie, alle Bereiche der Gesellschaft zu durchdringen. Islamismus und die Proponent:innen dieser Ideologie sind unsere Feinde. Wer eine freie Gesellschaft möchte, muss sich ihnen in den Weg stellen.

Doch trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse der österreichischen und westlichen Spitzenpolitik steht Israel im globalen Kampf gegen Islamismus relativ alleine da. Auch die besten Präventionsangebote gegen islamistische Radikalisierung bringen wenig, wenn Hamas-Strukturen weiter in Österreich und Europa aktiv sind, wenn gegen rechtsextreme Graue Wölfe, antipluralistische, salafistische Gruppen und weitere Islamist:innen nicht gehandelt wird.

Insbesondere aber ist der Kampf gegen den Islamismus auch ein außenpolitischer. Während die Menschen in Israel und Gaza täglich mit der schrecklichen Realität des Krieges leben müssen, genießt die milliardenschwere Führung der Hamas ihr Luxusleben bei ihren Gönnern in Katar – dem Ausrichter der letzten Fußball-Weltmeisterschaft. Finanziert und ausgebildet wird sie vom iranischen Regime. Einer der wichtigsten Handelspartner der Islamischen Republik Iran in Europa ist Österreich. Unterstützt werden die Islamist:innen, die Israel bedrohen, die uns bedrohen, auch von Erdogans Türkei. Wenn Europa den Kampf gegen den Jihadismus ernst meint, dann muss das auch bedeuten, sich solchen Regimen entgegenzustellen und diese zu sanktionieren, Solidarität mit Israelis, Kurd:innen und anderen Betroffenen von Islamismus zu zeigen.

Stattdessen steht Israel ziemlich einsam da.

Mangelnde Solidarität

Theodor W. Adorno sagte einst, Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden. Heutzutage ist Antisemitismus auch das Gerücht über Israel: Obwohl Israel und seine Bevölkerung einem der schlimmsten Verbrechen der jüngeren Geschichte ausgesetzt waren, sprechen große Teile der Welt dem jüdischen Staat sein Recht ab, sich gegen die existentielle Bedrohung zu wehren. Die Schlächter unserer Freunde und Familien werden “Freiheitskämpfer” genannt und der Versuch sie zu stoppen soll in perfider Täter-Opfer-Umkehr ein “Genozid” sein.

Während Israel mittels Videoaufnahmen, die so grausam sind, dass niemand sie ansehen sollte, minutiös beweisen muss (und dies für viele niemals kann), dass tatsächlich Babys enthauptet wurden, dass es tatsächlich zu Massenvergewaltigungen und grausamsten Misshandlungen kam, verbreiten sich Fakenews über angebliche israelische Kriegsverbrechen wie Krankenhausbombardierungen in Windeseile, arrivierte Medien und demokratische Regierungen geben Hamas-Propaganda als Fakten wieder. Das Gerücht über Israel eben.

Doch es macht einen Unterschied, ob Kinder gezielt massakriert werden, oder als menschliche Schutzschilde der Hamas sterben.

Natürlich ist es schrecklich, was Gazas Zivilbevölkerung gerade widerfährt, jedes tote Kind ist eine absolute Katastrophe. Unsere Gedanken müssen auch mit ihnen sein. Dafür verantwortlich sind aber vor allem jene, die die Menschen in Gaza bereits seit langem in einem extrem repressiven System gefangen halten: Die Hamas.

Es gibt keine wahllose, willkürliche Bombardierung von Zivilist:innen in Gaza, erst recht keinen Genozid. Ziel der Bombardierungen ist die Zerstörung der Hamas, um eine weitere Gefährdung der jüdischen und arabischen Bürger:innen Israels abzuwenden. Jene Hamas, die zivile Infrastruktur für militärische Zwecke nutzt, Schulen, Wohnhäuser, Moscheen und Krankenhäuser als Waffenlager, sowie Zivilist:innen als menschliche Schutzschilde missbraucht und ihren Tod nicht nur billigend in Kauf nimmt, sondern als explizite Strategie herbeiführt, um Hass auf Israel zu schüren, um Israel in bester antisemitischer Tradition des Kindsmords zu bezichtigen.

Es steht außer Frage: Jedes Menschenleben ist gleich viel wert. Aber es macht einen Unterschied, ob Zivilist:innen beim Versuch, eine barbarische Terrororganisation auszuschalten, sterben, oder ob es gerade um den Massenmord an Zivilist:innen geht. Wer da nicht unterscheidet, wird zum:zur Apologet:in der Massenmörder. Der seit Jahren andauernde Raketenterror der Hamas hat hingegen genau dieses Ziel: die Ermordung möglichst vieler Zivilist:innen in Israel. Verhindert wird dies, weil Israel seine Bürger:innen nach allen Möglichkeiten schützt, anstatt sie absichtlich der Gefahr des Raketenbeschusses auszusetzen.

Kollektives Trauma

Für uns als Juden:Jüdinnen aus der Diaspora war und ist Israel ein Schutzraum. Ein sicherer Hafen vor eskalierendem Antisemitismus in unseren Heimatländern. Und genau dort ist nun ein Pogrom verübt worden. Das hat in vielen Juden:Jüdinnen ein altes Trauma neu aufgerissen. Das Trauma, Mord und Verfolgung ungeschützt ausgesetzt zu sein.

Wie dringend wir einen Schutzraum brauchen, hat der letzte Monat gezeigt. Denn seit dem 7. Oktober ist es zu einer Explosion des Antisemitismus gekommen. Weltweit herrscht Pogromstimmung. Ich denke dieser Tage oft daran, dass ich froh bin, dass meine Großmutter, die das Novemberpogrom in Wien überlebte, die Welle des Judenhasses, die uns gerade überrollt, nicht mitbekommt.

In nicht einmal einem Monat gab es in Wien fast 200 dokumentierte antisemitische Vorfälle, der Stadttempel und der jüdische Friedhof wurden geschändet. Häuser werden mit Judensternen markiert, in Frankreich wurde eine ältere Frau mit einem Messer attackiert, in Dagestan konnten wir ein weiteres versuchtes Pogrom live auf unseren Handys mitverfolgen. International gibt es so viele antisemitische Vorfälle, dass auch nur die Schlimmsten aufzulisten den Rahmen dieses Textes sprengen würden. Auf der ganzen Welt nimmt der antisemitische Mob sich die Straßen, während vielerorts die Behörden nur zusehen oder den Hass gar befeuern.

Wenn es je ein jüdisches Sicherheitsgefühl gab, dann ist es nun verschwunden. Überall und ständig werden Juden:Jüdinnen gezwungen, sich zu positionieren. Von Freund:innen, Bekannten, ja sogar Fremden auf der Straße und im Internet werden europäische Juden:Jüdinnen für die angeblichen Verbrechen Israels zur Verantwortung gezogen. Und zwar ganz egal, ob sie sich sonst zum Nahostkonflikt äußern. Ganz egal, ob sie sich politisch engagieren oder nicht. Ganz egal, ob sie Zionist:innen sind oder nicht, ganz egal, ob sie progressiv oder konservativ sind – Freundschaften zerbrechen, Uni und Arbeit werden gefährlich, weil Juden:Jüdinnen als “Kolonialherren” und “Unterdrücker:innen” zur angeblichen Verantwortung gezogen werden, weil es plötzlich nur noch Solidarität mit Juden:Jüdinnen gibt, die eine “passende Meinung” haben.

Mangelnde Solidarität

Eines ist klar: Diesen Gruppen geht es nicht um palästinensische Menschen oder muslimische Leben. Derzeit gibt es tatsächlich einen Genozid gegen Muslime – in China. Derzeit werden zwei Millionen Afghanen aus Pakistan vertrieben, Millionen Rohingya in Bangladesch ethnisch gesäubert. Palästinenser:innen selbst sind in Syrien und Jordanien Bürger:innen zweiter Klasse, Ägypten blockiert den Gazastreifen gemeinsam mit Israel. Doch interessieren tut all das niemand, es sind die falschen Opfer, die falschen Muslime und Palästinenser:innen.

Denn dem Mob auf unseren Straßen und im Internet geht es darum, ihren Antisemitismus gegen Israel auszuleben. Wie bei den Corona-Demos fungiert Judenhass als großer Verbinder, postmoderne Hipster demonstrieren Hand in Hand mit langbärtigen Salafisten – Widerspruch sehen sie keinen, solange es gegen Israel geht.

In den letzten Tagen versuchte auch eine Reihe rechter Hetzer:innen die antisemitischen Vorfälle in Europa und den Konflikt in Israel zu missbrauchen, indem sie Israel als Front in einem fantasierten “Kulturkrieg” sehen und vor dem “neuen Antisemitismus” warnen. Doch die Existenz Israels ist auch eine Antwort auf die Ideologie der europäischen Rechten, der “alte” Antisemitismus war gerade in Österreich nie weg. Antisemitismus kann niemals mit Rassismus bekämpft werden, der Antisemitismus hier ist nicht einfach “importiert.”

Auch hier fühlen wir uns sehr einsam. Viel zu wenige ergreifen Partei. Doch wenn “nie wieder” mehr als eine hohle Phrase sein soll, brauchen wir euch jetzt. Wir brauchen echte Taten im Kampf gegen jeden Antisemitismus.

Und an Avigayil und die anderen 240 verschleppten Kinder, Frauen, Männer und sogar Shoahüberlebende, wir denken an euch! Und wir müssen ihre Stimme sein. Seid ihre Stimme, seid laut, seid unangenehm, handelt für sie. Denn die Zeit sie zu retten läuft ab.

Bring them home now!

Für das Leben, für die Freiheit,

Am Israel Chai!

passiert am 10.11.23